Augen im Nebel

Baum im Nebel
Jetzt, wo der Herbst unübersehbar wird und die Morgen schon wieder in Nebel getaucht beginnen, werden Erinnerungen an ein besonderes Harzerlebnis wieder wach, das ich vor einigen Jahren hatte.
Auch dies im Herbst, in einem Oktober, der weniger golden war als der diesjährige.

Ich war im Hochharz unterwegs, in der Gegend um den Clausthaler Flutgraben und Oderteich, allein, nur der Hund mit dabei, und der Nebel stand so dicht, daß man kaum zwei, drei Meter weit sehen konnte. Kein Mensch sonst war unterwegs, die Luft dicht wie aus grauem Samt. Ein Auerhahn flog, ein dunkler Schatten, quer über den Weg, und der Wind strich mit seltsamem, pfeifendem Geräusch durch abgestorbene Baumstämme. In der Ferne waren einzelne Rufe von Rothirschen in der Brunftzeit zu hören, abgerissen, je nachdem, wie der Wind stand und was er mit sich trug.

Und auf einmal wurde die Welt zu einer anderen. Die Wahrnehmung, irgendwo dort im Wald sei etwas, wurde immer stärker. Unsichtbare Augen im Nebel, beobachtend, was ich, dieser seltsame, einzelne Mensch dort draußen, dort machte, wohin ich ging. Seltsamerweise hatte ich keinerlei Gefühl von Angst dabei, es schien eher, als seien es wohlwollende Augen, die mich dort im Nebel beobachteten. Hätte ich diese Empfindung gehabt, und gleichzeitig an keiner anderen Reaktion festmachen können, daß sie mehr sei als nur Einbildung, hätte ich geglaubt, Nebel und Einsamkeit hätten meine Sinne verwirrt. Aber auch der Hund war anders als sonst. Er, der bisher nie Angst im Wald und bei Nebel gezeigt hatte, hatte offenbar eine genau entgegengesetzte Wahrnehmung zu der meinen: er zog die Rute weit unter den Bauch, blickte sich alle paar Meter ängstlich um, als hätten seine feineren Sinne noch weit mehr wahrgenommen als die meinen.

Es war nicht nur das Gefühl, daß dort im Nebel Augen seien, nein, der ganze Wald schien wesenhaft zu werden, nicht nur Ansammlung aus Bäumen, Tieren und Moos, nein, er erschien wie ein ganz eigenes, komplexes, körperhaftes Lebendiges. Die Rufe der Kolkraben unterstrichen noch, was hier geschah: eine Verwandlung der ganzen Landschaft, und ein Ruf an die Tiefen der eigenen Seele…

Aiko
Als ich mit dem Hund die Gegend um die Flutgräben verließ, blieben die Augen, die Wesenhaftigkeit des Waldes allmählich zurück, und als die erste Straße aus dem Nebel auftauchte, war es vorbei. Ich habe so ein Erlebnis niemals wieder gehabt, trotz zahlreicher weiterer Nebelgänge, aber ich kann es auch nicht vergessen, denke immer wieder darüber nach, kein Verblassen trübt die Erinnerung. Der Hund hat eine Angst vor Nebel zurückbehalten.

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