Ausflug in den Schnee

Eckerstausee im Dezember
Einheitlich grau ist der Himmel an diesem zweiten Advent, an dem ich morgens um kurz nach acht in Bad Harzburg losgehe. Die Luft ist feucht, der Boden noch naß vom gestrigen Regen, auch jetzt wirkt es so, als könne der Regen jederzeit wieder beginnen. Es heißt Abschied nehmen vom Harz in diesem Jahr – die noch folgenden Wochenenden sind restlos durch Arbeit oder Feiertägliches belegt. Das Laub auf dem Waldboden glänzt vor Feuchtigkeit, und aus den kahlen Bäumen fallen immer wieder dicke Tropfen. Grau ist auch meine Stimmung, als ich durch den Wald zum Molkenhaus aufwärts steige, zu viel hat sich in der letzten Zeit wieder angesammelt: dunkle Erinnerungen an Krankenhaus und Tod, die seither die Weihnachtszeit völlig überschatten, und Wut und Ohnmachtsgefühl angesichts der Nachrichtenmeldungen der vergangenen Wochen – das alles treibt mich den Berg sehr zügig nach oben. Diese Abschied-vom-Harz-2011-Wanderung ist als Ventil für all das Negative gedacht, soll angestautes Adrenalin physisch und damit auf gesunde Weise umsetzen.

Die Wiese, die aufs Molkenhaus folgt, liegt glanzlos da, das Gras schon winterfahl, von laublosen Bäumen umstanden, die Erde des Wiesenpfads schmatzt wassergetränkt unter den Schritten. Dann geht es abwärts ins Tal der Ecker, die Klippen rechts am Hang moosbedeckt und vom Regen dunkelgrau. Bald stehe ich kurz vor der Staumauer des Eckerstausees, rechts hinauf führt nun der Weg und in weitem Bogen auf die Staumauer zu.

Auch diesmal ist der See Wendepunkt der Wanderung. Als ich die Staumauer betrete, reißt der Himmel auf, die Sonne sendet grüßend ihre Strahlen hinab. Melancholisch liegt das schwarze Wasser des Sees inmitten der Harzlandschaft, am Fuß des Brockens, und die fahle Dezembersonne spiegelt die Fichten dunkel wider und schickt ihre Strahlenvogelschwärme zu mir her. Ganz allein stehe ich heute hier, noch kein anderer Wanderer ist mir begegnet. Der See vor dem Brocken, Sonne und Wind sind wie Gebete der Harmonie, man kann nicht auf das stille Wasser blicken, ohne selbst zur Ruhe zu kommen.

Wie so oft ist auch heute das Überschreiten der Staumauer wie ein Schreiten über eine unsichtbare Grenze zwischen Zivilisation und Naturgewalt, ein Eintritt in den Bannkreis des nunmehr dominierenden Brockens, der einen anzieht und mit dem Lied des Windes herbeiruft.

Blick durch Baeume auf den Eckerstausee

Der Wind nimmt deutlich an Stärke zu. An einer ausgesetzten Ecke des Sees mit wunderbarem Blick mache ich die erste Rast, genieße die letzten fahlen Dezembersonnenstrahlen einer Sonne, die durch ihren Kampf mit Nebeln und Winternacht immer schwächer wird, bis sie zur Wintersonnwende wieder an Kraft gewinnt. Kurz nach zehn ist es jetzt – da für den Nachmittag Orkanböen angekündigt sind, muß ich mich nun vom See losreißen und meinen Weg auf den Brocken fortsetzen – auch die kurzen Tage lassen mir nicht mehr Zeit zum Verweilen.

Den Abstecher auf die Scharfensteinklippen, von denen man einen wunderbaren, stillen Blick über den Harz, auf Brocken und See hat, schenke ich mir heute, dafür bin ich eine Stunde zu spät dran – spätestens um zwölf will ich die Brockenkuppe erreicht haben. Über die Panzerplatten des Heinrich-Heine-Wegs geht es aufwärts, die Sonne verschwindet hinter Wolken, taucht wieder auf und verschwindet erneut.

Je höher ich steige, desto stärker wird der Wind, rauscht in den Fichten entlang des Weges, bewegt die Wipfel, trägt immer wieder erste Graupelschauerwolken mit sich. Nach etwa einer Stunde begegnen mir zwei Wanderer, als ich näherkomme und grüße, malt sich Erstaunen auf ihre Gesichter. Ich kann die Gedanken lesen, zu oft schon bin ich diesem Erstaunen begegnet, und manche haben es auch ausgesprochen: eine Frau allein hier oben, inmitten der Naturgewalten, die ihre völlige Entfesselung schon in Vorboten ankündigen. „Haben Sie denn keine Angst?“, haben manche gefragt. Ja, manchmal hatte ich Angst, mancher Blick in die Abgründe der Alpen war furchteinflößend, manche Wetterlage auch, aber Ängste sind dazu da, überwunden zu werden. Geht man ihnen entgegen, wächst man an ihrer Überwindung, und verläßt die Lage stärker als zuvor. Das gilt nicht nur für einsame Wanderungen, sondern auch für Zwischenmenschliches…
Nichtsdestotrotz, einsame Wanderungen gehören auch in unserer Welt der Emanzipation wohl zu den ungewöhnlichsten Dingen, die eine Frau tun kann.

Immer wilder gebärdet sich der Wind, das Rauschen der Bäume wird lauter und lauter, der Graupel schlägt mir ins Gesicht, prickelt auf der Haut. Längst ist die Sonne verschwunden, bin ich ins Wolkenreich eingetreten, das die Brockenkuppe umgibt. Nur noch selten wird ein Blick frei auf den weit unten liegenden Harz. Umkehren? Noch erscheint der Wind nicht zu stark, um weiter voranzugehen, und eigentlich bleibt auch nur dieser Weg – den Rückweg auf der anderen Seite des Brockens könnte man im Zweifelsfall auf zwei Gehstunden bis Torfhaus verkürzen und mit dem Bus zurückfahren, zurückgehen über den Eckerstausee wäre deutlich länger.

Die Nebelwolken treiben dahin, als seien sie auf der Flucht, und bleiben dennoch dicht und lückenlos. Etwa bei der 1000-m-Markierung trete ich in den Winter ein, dünner Schnee von gestern bedeckt den Boden. Sehr weit ist es jetzt nicht mehr. Als eine schmale Wolke den Blick auf die Brockenaufbauten freigibt, sie wie Schatten im Nebel auftauchen läßt, bin ich dennoch überrascht – ich stehe nur noch wenige Meter von der Brockenkuppe entfernt.

eisüberzogener Stein auf der Brockenkuppe Die böse Überraschung folgt auf dem Fuß: der eisige Wind hier oben, der direkt über die Kuppe streicht, hat den Schnee von gestern fest auf den Boden gedrückt und zu Eis erstarren lassen. Einige größere Steine sind mit bizarren Eismustern überzogen, der Boden hingegen erweist sich als gefährlich glatte Fläche. Mit dem Wind im Rücken kann ich mich kaum auf den Füßen halten, gleite und rutsche über die Brockenkuppe hinweg – der Abstiegsweg liegt auf der anderen Seite. Kein Ort zum Verweilen heute – Kälte, Graupel, Sturm, Nebel und Glätte nehmen jede Fernsicht und Drängen zum Abstieg. Eine Brockenbahn ist gerade angekommen und spuckt einige zusammengeballte Besucher aus, manche in dünnen Sommerschuhen – kein Wunder, im Tal hat es beinahe 10 °C, und auch hier oben ist es hauptsächlich der Wind, der die Kälte bringt. Viel Vergnügen!

Der Abstieg Richtung Torfhaus ist dem Wind kaum ausgesetzt, und so wird die ganze Landschaft wieder friedlicher und zivilisierter. Immer wieder begegne ich hier auch wieder aufsteigenden Wanderern. Der Schnee hält allerdings länger an, gute zwei Stunden gehe ich über schnee- und schneematschbedeckte Wege, bald auch wieder im Waldesinneren. Den Abzweig nach Torfhaus lasse ich links liegen und folge dem Kaiserweg zurück nach Bad Harzburg. Die Gedanken pendeln sich aus, sind durchgeblasen und müdegelaufen. Eine entlaubte Lärche steht mit ihren aufwärts gebogenen Zweigen da wie ein zerzauster, überdimensionierter Weihnachtsengel. Ab dem Molkenhaus geht es die letzte Strecke in der Abenddämmerung abwärts, der Blick durch die kahlen Baumkronen entwirft wunderschöne Scherenschnittmuster vor dem helleren Abendhimmel. Lang knirscht der gewohnte Bergschritt auf dem Kies der vertrauten Waldwege, bis die ersten Straßenlaternen grell die dämmerungsgewohnten Augen blenden: auf ein Neues im nächsten Jahr!

Baumkronen im Abendhimmel

Dieser Beitrag wurde unter Landschaften, Neu abgelegt und mit , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.