Frühlingserwachen, II


Die Rückkehr des Frühlings ist mehr als ein jahreszeitliches Ereignis. Viel mehr insbesondere für diejenigen, die im Winter viel Zeit draußen verbringen, draußen arbeiten, auf den Straßen sind, für diejenigen also, die den Winter vor der Tür nicht nur aus dem geheizten Zimmer betrachten, sondern für die er elementar wird.

Diejenigen, die den Winter draußen erleben, spüren die Grenzen der zivilisierten, von Gefahren befreiten Welt. Sie erkennen den Winter im Neuschnee und extremer Kälte als dem Leben feindliche Kraft. Neuschnee wie im Dezember 2010, jeden Tag aufs Neue, ein Kampf auf frisch verschneiten Straßen, um an Ziel zu kommen, die kleinen Dörfer und abgelegenen Feldwege draußen in der Landschaft. Panzer aus Eis auf den Straßen, ein ohnmächtiger Winterdienst, Auto- und LKW-„Leichen“ an den Straßenrändern, in Straßengräben, umgekippt auf der Seite, auf dem Dach, an Bäume geschleudert. Wehender, leichter, feiner, kältefliegender Schnee, vom Wind die Frontscheibe komplett blind, mehr Glück als Verstand, ohne Sicht nicht in die meterhohen Schneewehen am Rand der Straße zu steuern. Spaten und Schlafsack im Auto ein Muß. Schlitternd über festgefahrenes Eis zwischen den Ställen, blaugefrorene Hände, beim Auftauen unter den Nägeln brennend. Füße, die man nicht mehr spürt, kurzes Aufwärmen in warmer Stalluft, dann weiter auf die blau- und gelblichtübersäten Straßen, Fahrten, an deren Ende man jeden Tag aufs Neue froh ist, überlebt zu haben, ein Hauch von Soldatentum, unwirklich in einer Welt wie der unseren und doch real.

Klirrende Kälte, „Russenkälte“, im Januar 2012, sich auf das Land wie ein Panzer legend, der allmählich jedes Leben zum Erliegen bringt, jedes Hantieren mit Wasser zur Qual macht, am Morgen schon von einem Eiseshauch begrüßt. Man kann nicht nur den Schnee riechen, nein, man kann auch diese Art von Kälte hören, wenn man am Abend am offenen Fenster steht und hinauslauscht: es liegt ein Rauschen in der Luft, zwar an sich nur ein leises Rauschen, aber im Kopf betäubend laut und feindselig dumpf hallend, als könne man mit diesem Rauschen bis in die Tiefen des Alls sehen, das in seiner schweigenden, kalten Schwärze vor einem aufsteht, tiefer und unendlicher, und einsamer als alles, was zu denken ist.

Am Tage, wenn die Sonne scheint, wird die Kälte für Stunden erträglich, wenn man auch hinter der kalten, glitzernden Reiflandschaft die Gefahr sehen kann, die von ihr ausgeht. Hier liegen bleiben, hier draußen, auf einem einsamen Weg, würde den sicheren Tod bedeuten. Man sieht es der Landschaft in ihrer bizarren Schönheit an, die kein Grün, kein Bunt in sich trägt, nur reflektierendes, klirrendes, hartes Weiß.
Dann wieder feuchte Kälte, die in die Knochen und in die Lungen kriecht, wieder Schnee, wieder Kampf ums Überleben auf den Straßen, Krankheit und Tod allgegenwärtig im Land.

Ja, und dann: dann singt eines Morgens ein Vogel, zaghaft noch, aber er singt! Er singt, er singt ein Lied vom Frühling, von Sonne, von der Wiederkehr des Lebens, von Blumen und Grün und Liebe und Licht, und beim Herausgehen kommen einem die Tränen, daß der beklemmende Panzer aus Kälte von einem weicht, der nicht nur das Leben, sondern auch die eigene Seele allmählich absterben ließ, und die Luft streicht lau über die Haut, und mit etwas Glück findet man die ersten Schneeglöckchen…

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