Meißnernacht – Nachtgedanken

Mond hinter Bäumen

Nebel.
Dichter Nebel empfängt uns auf dem Hohen Meißner. Dunkelheit und feuchte Kälte, ein scharfer Kontrast zum hell-warmen Bustransfer vom Ludwigstein aus. Ein Nebel von der Art und Weise, wie er sich auch an sonst klaren Nächten an Bergkuppen sammelt und verdichtet.
Auf kurzem Weg gehen wir von der Straße zum Gedenkstein, wo uns eine unerwartete Überraschung empfängt: ein Tonband, auf dem jeder seine Botschaft für die Meißnerfeier 2013 hinterlassen soll. Jetzt merkt man deutlich, dass der lange diskussionsreiche Tag schon Spuren an der Fähigkeit zu spontanen Geistesblitzen hinterlassen hat. Ich muss an einen kürzlich gehörten Vortrag denken, in dem erläutert worden war, dass Bilder und Worte mit starker Symbolkraft nur selten völlig spontan entstehen, sondern intensiver Vorbereitung bedürfen. Bewegend aber die Frage: wird das Tonband fünf Jahre Eingegrabensein in der Nähe des Gedenksteins überstehen? Was werden sich die Feiernden beim Abhören denken?

Dann klingen einzelne Lieder in die Nacht hinaus, treffen sich mit den grauen Nebelschleiern, die jedes Geräusch abdämpfen, bis es vollständig verklingt. Nebelnächte sind stille Nächte.
Die Wanderung zurück zum Ludwigstein beginnt – 17 km sollten es werden. Die Frage, warum die Ankunft gegen 8 Uhr morgens angesetzt war, sollte sich im Lauf der Nacht noch deutlich genug beantworten.
Wie würde es sein, mit einer so großen und mir nahezu unbekannten Gruppe durch die Nacht zu wandern? Es ist lange her, geht auf meine Schulzeit zurück, das letzte mal mit so vielen Menschen gemeinsam draußen unterwegs gewesen zu sein, später fast immer allein oder in
einer Kleingruppe. Schon damals hatte ich den Alleingang als eine eigene, ganz besondere Erlebniswelt entdeckt, denke nun zurück an andere, vergangene Nächte in Wald und Natur.

Ja, es ist anders. Man spürt den Wald nicht so intensiv, nimmt seine feinen Geräusche und Stimmungsschwankungen nicht wahr, die überlagert werden von menschlichem Zusammensein, Schritten, Worten. Der Wald als komplexes Lebewesen zieht sich zurück und wird Kulisse, Bühne für den Menschen als Gruppenwesen, baut einen Kontrast, eine Trennlinie auf, die eine größere Menschenzahl wohl nur schwer überschreiten kann.

Der Nebel bleibt allmählich genauso zurück wie die Lichter der Straßenlaternen und eines einzelnen Hauses auf der Kuppe. Gespräche verwickeln sich, anfangs noch zu den Themen des Tages, werden dann aber intensiver und persönlicher, gleiten auf andere Ebenen ab, suchen Gemeinsames und Trennendes zu bestimmen, weisen auf Verbundenheiten und Sympathien trotz mancher – auch scharfer – Gegensätze. Der Weg ist leicht zu gehen, ein breiter Waldweg mit einzelnen betonierten Abschnitten. In der jetzt klaren Nacht scheint immer wieder der Mond durch die Stämme. Es ist eine von den Nächten, in denen man Schatten wirft. An einer Kiesgrube machen wir halt und singen, das Mondlicht beleuchtet Boden und Gesichter. Einzelne Nebelfetzen tauchen im Gegenlicht auf und ziehen wie ein kurzer Hauch vorbei.

Dann gehen wir weiter. Nach einiger Zeit verändert sich der Untergrund. In den letzten Wochen müssen Holzfällarbeiten stattgefunden haben, die Wege sind zerfurcht von den Rädern schwerer Fahrzeuge, die Erde ist mit Ästen, Zweigen und Steinen übersät. Der Regen der vergangenen Tage tut sein Übriges – das Gehen beginnt, Konzentration zu fordern, wird stellenweise zum Tasten und Stolpern, immer wieder rutschen die Füße auf feuchtem Holz oder an Furchenrändern ab. Die Gespräche werden leiser und unterbrochener, gleichzeitig nimmt die Schwärze der Nacht zu, nähert sich ihrer tiefsten Finsternis. Wir legen eine Vesperpause ein, allmählich machen sich Müdigkeit und Mangel an Schlaf bemerkbar.

Weiter geht es auf schwierigem Untergrund. Der dichte Fichtenwald erzeugt eine Dunkelheit, die die Augen kaum noch durchdringen können. Immer wieder passiert es, dass man einen Stehenbleibenden nicht bemerkt und mit ihm zusammenstößt. Die Gespräche verändern sich, drehen sich um blendende Fackeln an der Gruppenspitze oder ebensolche, zeitweise aufblinkende Taschenlampen. Irgendwann setzt die Erkenntnis ein: ein falscher Abzweig, fehlgegangen.

Allmählich wird klar, warum für 17 km eine ganze Nacht eingeplant worden war. Es wird der Entschluss gefasst, die nächste Fahrstraße aufzusuchen und dort bis zum nächsten Abzweig Richtung Ludwigstein zu gehen. Zwar würde das den Weg verlängern, aber man käme auch
schneller voran. Und wirklich – eine Erleichterung, auf Asphalt gehen zu können, ohne zu rutschen, zu gleiten und zu stolpern. Jetzt klingen auch wieder einige Lieder auf, der Abzweig zum Ludwigstein ist schneller erreicht als zunächst angenommen. Nun folgen nochmals einige Kilometer auf zwar dunklen, aber guten Waldwegen. Ein kurzes Zwischenspiel wartet noch auf uns: einer der beiden begleitenden Hunde ist verloren gegangen, ein kleiner weißer Chihuahua. Keine ungefährliche Situation für so einen winzigen Hund im nächtlichen Wald – aber glücklicherweise ist er schon bald wieder aufgefunden, hatte nur das Tempo nicht mehr mithalten können und begleitet uns von nun an in der Tragetasche seiner Besitzerin.

Noch ein paar letzte Steigungen, dann sehen wir den Ludwigstein vor uns. Über die letzte Wiese gehen wir in der beginnenden Morgendämmerung hinauf, und es ist wie bei jeder Ankunft an jenem Ort eine Art Heimkommen, ein Gefühl des Dort-hin-Gehörens, Beheimatetseins, die letzten Meter zu gehen, den Burghof zu betreten.

Die Meißnernacht klingt aus im Gedenkraum für die gefalllenen Wandervögel der letzten beidenWeltkriege. Für viele von uns bedeutete schon die nächtliche Wanderung in einem uns friedlich umgebenden, schweigenden, gefahrlosen Wald Mühe und Anstrengung – was haben jene Wandervögel vor ihrem gewaltsamen Sterben erlebt? Vielleicht ebenfalls nächtliche Wälder, aber Wälder der Feindseligkeit und des Todes?

Dankbar, im Frieden aufgewachsen zu sein und leben zu können, singen wir „Schließ Aug und Ohr“, anschließend „Was ließen jene“. Waren auch jene Wandervögel „letztes Scheit“ gewesen – und wofür?

Isabel Sahm, geschrieben nach der Meißnernacht im Oktober 2008 auf Burg Ludwigstein, veröffentlicht in „Idee und Bewegung“, Heft 84, Dezember 2008, S. 50

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Eine Antwort zu Meißnernacht – Nachtgedanken

  1. S. sagt:


    Nur der Einsame findet den Wald. Wo ihn mehrere suchen, da flieht er – und nur die Bäume bleiben zurück.

    Unbekannter Verfasser

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