Meißnerfahrt – Fünf abwechslungsreiche Tage

Hanstein am ersten Abend der Meißnerfahrt 2013

Hanstein am ersten Abend der Meißnerfahrt 2013

Die Ruine der Burg Hanstein thront hoch über Bornhagen in einer Abendsonne, die letzte Wärme spendet, als die Teilnehmer der Meißnerfahrt nach und nach eintreffen. Lange hat mitunter die Anreise gedauert; aufgrund des verlängerten Wochenendes scheint die halbe Republik unterwegs zu sein, Zug- und Autostrecken sind gleichermaßen überlastet. Viele kommen erst weit nach Anbruch der Dunkelheit an, freundlich empfangen von einer nimmermüden Kassenwartmannschaft, die die Teilnahmebänder übergibt. In der Dämmerung, teils schon im Stockfinstern werden Kohten, Jurten und kleinere Schwarzzeltkonstruktionen rund um die Burg herum aufgebaut; windgeschützte Ecken sind beliebt, denn der Herbstwind pfeift bereits kalt schneidend um das alte Gemäuer. Auch in den Burghof zur Eröffnungsrunde trägt der Wind seine Kälte hinein; im Kaminsaal jedoch brennt ein wärmendes Feuer, sammeln sich die Teilnehmer der Meißnerfahrt zum mal lauten, mal leisen, mal schneidigen, mal melancholisch-weichen, tragenden Gesang. Auch geredet wird viel, trifft man doch zahlreiche Bekannte wieder, die man oft länger nicht mehr gesehen hat, knüpft neue Bekanntschaften oder vertreibt sich die Windkälte beim Volkstanz im Rittersaal ein Stockwerk weiter oben. Schnell verfliegen Abend- und Nachtstunden, allmählich kehrt Ruhe ein, in und um die Ruine: nicht allzu lange, denn aufgeregt sind vor allem die jüngsten Kinder, die am Morgen schon früh erneut in das spannende Abenteuer eintauchen wollen und den mitfahrtenden Eltern keine Gelegenheit zum langen Ausschlafen lassen.

Der frühe Morgen verfliegt im Nu durch das Abbauen des Kohtenlagers, Ankunft weiterer Teilnehmer, die Morgenrunde im Burghof. Dann zeigt sich, dass die Fahrt wirklich auch Fahrt, nicht nur Treffen sein will: Aufbruch zur Wanderung vom Hanstein zum Ludwigstein. Wieder gibt die Sonne ihr bestes, um die nächtliche Windkälte zu vertreiben und den nahenden Herbst vergessen zu machen. Durch sonnendurchfluteten Wald geht es hinüber zum Lindewerrablick, dann hangabwärts. Gruppen bilden sich, ziehen sich beim Wandern auseinander, finden sich wieder, formieren sich neu. Unten an der Werra brennt die Sonne regelrecht; zahlreiche Feiertagsausflügler sind unterwegs und grüßen mal neugierig-fragend, mal skeptisch, mal fröhlich und erhalten einen stets frischen und frohen Gruß zur Antwort. Vertraut ist der Pfad hinauf zum Ludwigstein, ungezählte Male schon in früheren Jahren gegangen. Oben empfängt die Wanderer ein schon lebhaftes Treiben; die Meißnerveranstaltungen auf der Burg sind bereits in vollem Gange. Manche „Kohtenmannschaft“ findet sich erst jetzt und ganz spontan zusammen, Schwarzzeltmaterial und Werkzeuge werden ausgetauscht, und bald – oder auch mal nicht so bald – stehen die Schlafplätze erneut. An Schlaf freilich ist noch lange nicht zu denken; die Bürgermeisterin von Witzenhausen hält ihre Eröffnungsrede, der Enno-Narten-Bau wird von manchen erstmals in seiner ganzen Pracht bestaunt, der Markt der Jugendbewegung lockt durch ein reichhaltiges Angebot, verschiedenste Vorträge können besucht und unterschiedlichste Aktivitäten unternommen werden. Alles kann man leider unmöglich gesehen haben! Am Abend findet das Theaterstück „Die Entwicklung Witzenhausens zu einer ökologisch-kulturellen Musterstadt“ im Meißnersaal statt. Auch wenn es noch nicht immer in aller Vollendung abgerundet erscheint, zeigt sich daran doch, wie bei gegenseitiger Toleranz selbst Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster Ansichten Freude und Spaß am gemeinsamen konstruktiven Miteinander erleben können.

Später am Abend weicht die bunte Fröhlichkeit einem ernsteren Anlass: im Burghof findet man sich zu einer Gedenkstunde für die gefallenen Wandervögel zusammen. Still brennen die Fackeln, würdevoll sind die Stimmen der Redner, tragend die Lieder, die der Toten gedenken, viel zu früh gefallen, ihres jungen Lebens beraubt, das noch in seiner ganzen Fülle vor ihnen gelegen hätte. Dann Schweigen. Einzelne und kleine Gruppen lösen sich aus dem Kreis, betreten den Gedenkraum, treten wieder in den Kreis zurück. Nachdenklich die Stimmung, jeder hat andere Bilder vor seinem inneren Auge. Noch lange stehen wir beisammen; Gelächter und das übliche Reden brauchen lange, um wieder Raum zu fassen. Doch schließlich greift die Freude des Beisammenseins wieder um sich, vielleicht durch den Kontrast noch verstärkt – denn wir, wir haben ja Glück, uns reißt kein Krieg mitten aus unserem Leben hinaus. Möge der Frieden andauern, der uns gegeben ist! Der Abend klingt aus in verschiedenen Singerunden, die sich in den Räumen der Burg bilden.

Am nächsten Morgen heißt es früh aufstehen, denn der Tag wird lang. Die Wanderung vom Ludwigstein bis zum Lagerplatz am Fuße des Meißners, oberhalb des Dorfes Hasselbach, umfasst 24 km; mit Gepäck eine ganz ordentliche Strecke. Dennoch gibt es auch heute eine Morgenfeier – eine Passage aus Saint-Exupérys Werk „Der kleine Prinz“, die den Zuhörern Werden und Wert von Freundschaft nahebringt. Wieder bilden sich Gruppen, die sich auseinanderwandern, zusammentreffen, neu ausbilden; wir wandern über den Schneehagenweg zunächst durch Wiesen und Streuobstwiesen, dann hinein in den Wald. Hier bietet sich auch eine gute Gelegenheit, sich in tiefen Gesprächen näher kennenzulernen; überhaupt kann man das vielleicht nirgends besser als beim gemeinsamen Wandern. Wunderschön sind Weg und Landschaft, die Sonne verwöhnt uns weiterhin, so stark, dass schattige Waldwege dazwischen auch mal ganz angenehm sind. Etwa auf halber Strecke wartet, heiß ersehnt, eine Gulaschkanone auf uns, und die erholsame und stärkende Rast im Sonnenschein erfreut unser aller Gemüt!

Immer weiter bergauf geht es nun, bis wir das Naturfreunde-Meißnerhaus erreichen: für manche Zeit für ein kühles Bier oder ein schmackhaftes Stück Kuchen. Ohne solche Stärkung wären sie vermutlich ermattet und bar aller Kräfte auf der Wiese liegengeblieben und hätten den Lagerplatz nie erreicht! So sehe man ihnen die Abkehr vom Abstinenzprinzip der Meißnerformel nach! Die Sonne wiederum hat möglicherweise weniger Verständnis, denn hier oben verlässt sie uns und wird uns erst am Sonntag wieder aufsuchen. Nebelwolken ziehen auf, verdüstern den Horizont, nehmen die Fernsicht, bringen aber eine andere Art von Romantik in die Naturszenerie. Beschleunigen auf jeden Fall das Weiterwandern, denn wer möchte schon gerne im Regen das Lager aufbauen… So wandern wir hurtig über die Höhe, wieder in den Wald und dann durch Wald auf steinigem Pfad steil bergab. Im Abendlicht erreichen wir den Lagerplatz, und aufgrund vorbildlicher Vorbereitung insbesondere durch den Freibund stehen schon bald die Kohten und Jurten. Kleinere und größere Feuer und Singerunden bilden sich und tauchen den Lagerplatz in vielfältigste Melodien.

In der Nacht, gegen Morgen, beginnt es in Strömen zu regnen, und so regnet es an diesem Samstag auch nur einmal – ohne Unterlass bis nach Mitternacht. So ist das Leben an diesem Tag etwas gedämpfter; die Teejurte erfreut sich äußerst großer Beliebtheit, und auch andere Aktivitäten finden nach Möglichkeit innen statt. Manche schlafen oder ziehen sich zu privaten Gesprächen in die Kohten zurück. Ein Höhepunkt des Tages ist sicherlich der überbündische Singewettstreit, zu dem sich gefühlt „alle“ Teilnehmer in der größten Jurte einfinden, dicht gedrängt wie Ölsardinen, aber in bester und trotz des Regens ungetrübter Stimmung. Schwer fällt es, sich eine Meinung darüber zu bilden, welche der allesamt wunderbaren Beiträge nun die Besten gewesen sein sollen; die Jury wird um die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, jedenfalls nicht beneidet. Verdient siegen schließlich mit dem ersten und dritten Platz die Jungen- und Mädelgruppe der Freien Pfadfinderschaft Kreuzritter, ein überbündischer Singekreis aus Bayern erhält den wohlersungenen zweiten Platz. Nach dem Wettbewerb folgen noch andere Einlagen; besonders eine Gruppe Fahrender Gesellen bleibt mit ihrem vorzüglich die Schwaben- und Wandervogeleigenart selbstironisch beleuchtenden „Liedle“ im Gedächtnis haften.

In der Dämmerung finden sich alle in der Mitte des Lagerplatzes zu einem großen Aufbruchkreis, der den Beginn der Wanderung zur Hausener Hute auf dem Meißner, dem historischen Platz des ersten Freideutschen Jugendtages vor 100 Jahren, markiert. Fackeln werden verteilt, dann wandern wir im Regen los. Schlammmassen haben sich durch den anhaltenden starken Regen auf den Wegen verteilt, manchmal wird das Gehen mühsam, müssen große Wasseransammlungen überquert werden. Wie Irrlichter, die entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit beschlossen haben, uns Menschen die Orientierung zu erleichtern, tanzen die Flammen der Fackeln durch Waldesdunkel, erhellen Gesichter, tragen Wärme in die regennasse Kälte ringsum. Der Weg wird schmaler und steiniger, auch bewachsener, und zwei-, dreihundert Meter vor dem Feuerplatz sammelt sich der Zug. Von hier an gehen wir schweigend weiter, einzelne Flammen markieren den Feierplatz in der Ferne. Um den riesenhaften Aufbau des Feuerstoßes ziehen wir einen Kreis in Regen und Wind, rücken dicht beisammen, um die Redner trotz des rauschenden Wassers verstehen zu können, die uns die historischen Zusammenhänge erhellen und von Freundschaft und Zusammenhalt sprechen. Dann wird der Feuerstoß entzündet. Die Flammen tun sich schwer im regennassen Holz, anfangs steigt nur ein gewaltiger Rauch hervor, wird durch den Wind in alle Richtungen verteilt, beißt in den Augen, bietet aber zusammen mit erstem Funkenflug ein eindrückliches Schauspiel – der Weihrauch der Meißnerfahrer… Dann siegen die Flammen über den Regen, brennen hell und heller in die Nacht hinaus, die Funken stieben wundersam durch die feuerbeleuchteten Silberperlenfäden des Regens hoch hinauf, das Meißnerfeuer wärmt die unterkühlten Gestalten rings umher. So von Wärme durchstrahlt, klingen auch Lieder mit dem Feuer in die Nacht. Lange brennt der Feuerstoß aufrecht, bis er letztlich fällt. So ursprünglich, ja urtümlich ist ein zeremonielles Feuer wohl nur in Naturgewalten, die ihm Widerstand leisten, in Regen und Wind. Der Kontrast erhöht die Wirkung trotz oder gerade wegen der einander entgegengesetzten physischen Empfindungen.

Am nächsten Morgen herrscht dennoch große Freude, dass aus Regen- nunmehr Nebelwolken geworden sind; das letzte Frühstück, der Abbau der Kohten können im Trockenen stattfinden. Mit der Abschlussrunde sagen wir einander auf Wiedersehen – bis in 50 Jahren vielleicht erneut ein Meißnerfeuer ruft. Ein riesengroßes Dankeschön an alle diejenigen, die als Veranstalter, Organisatoren und Mitwirkende durch ihr überwältigendes Engagement diese abwechslungsreichen fünf Tage haben Wirklichkeit werden lassen!

veröffentlicht in Idee und Bewegung, Heft 104, Dezember 2013, S.21-23

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