Morgenfeier


Manchmal kramt man seine alten Papiere durch, gerade, wenn man die äußeren Umstände seines Lebens stark verändert, wie ich es vor etwas mehr als einem Monat getan habe. Und in der heutigen Zeit eben nicht nur Papiere, sondern auch Dateien. Da fiel mir gerade heute eine Morgenfeier in die Hände, die nach all dem, was danach passiert ist, sehr eigenartig wirkt… – denn die Erfahrung brachte mit sich, daß „Jugendbewegung heute“ die Neugier aufs Leben zu einem guten Teil verlernt oder nie gekannt, mitunter auch Neugier durch Angst in einem Fall, mantrahaft vorgetragenen Dogmatismus im anderen Fall ersetzt hat – im schlimmsten Fall auch durch beides.

Morgenfeier
Wir beginnen mit einem Lied: Von allen blauen Hügeln.

Morgen. Was macht das eigentlich für uns aus? Ein Morgen ist ein Anfang, ein Beginn. Ein werdender Tag. Was bringt er mit sich, der werdende Tag? Sind wir am Abend noch dieselben, die wir am Morgen waren? Werden wir heute Abend vielleicht schon anders sein, als wir jetzt sind? Gibt es Tage, die uns besonders stark verändern? Wieviel tragen wir selbst zu unserer Veränderung bei, was bleibt dem Zufall überlassen? Wollen wir die Veränderung, oder wollen wir vielleicht lieber alles beim Alten lassen? Sind wir gesättigt mit dem, worin wir uns eingerichtet haben, mit unserem Wissen, Alltag, Lebensablauf, Bekanntenkreis? Leben wir vielleicht unsere Tage sogar unbewusst, maschinell, wie es etwa die Toten Hosen in ihrem Lied „Viva la revolution“ besungen haben?

„Jeden Morgen ein Drei-Minuten-Frühstücksei und eine Runde mit dem Hund;
Pünktlich bei der Arbeit sein, pünktlich wieder Schluss;
Jeden Tag in die gleiche Richtung, ohne zu fragen, wieso;
Jede Nacht dieselben Gesichter in denselben Fernsehshows.“

Erstrebenswert? Der Gang aller Dinge und aller Leben? Der Sinn des Lebens – Verbürgerlichung? Was ist das Entscheidende, was gibt den Ausschlag, immer wieder, lebenslang, anders zu sein, lebendig zu bleiben?

Es ist die Neugier aufs Leben.

Neugier darauf, das andere zu tun. Das andere, das einen deutlichen Kontrast zum eigenen Alltag liefert, das andere, das Anstoß erregt, Reaktionen auslöst. Nicht nur als Kind, auch noch als Erwachsener. Neugier darauf, auch manchmal das zu tun, was vielleicht sogar von der eigenen Mitwelt als verrückt aufgefasst wird. Neugier, die Reaktionen auslöst, und zum Werden von sich selbst und anderen beiträgt. Etwas für sich Neues tun. Dinge tun, die Selbstüberwindung, vielleicht sogar ein Stück Mut Kosten, weil eigene Ängste, Vorurteile dem entgegenstehen.
Das kann so etwas einfaches sein, wie allein ins Kino zu gehen oder allein in ein Restaurant. Nichts also, was gefährlich ist, aber etwas, das durchaus nicht ganz gewöhnlich ist. Das uns das Leben aus einer anderen Perspektive zeigt. Es kann ein Alleingang in die Berge sein. Oder eine Fahrt in ein fremdes, vielleicht gefährliches Land.

Kennt Ihr das? Das Gefühl, dass einen das Leben in seiner ganzen Intensität ergreift, dass man in jedem Teil des Körpers spürt, WIE SEHR man lebt? Für mich ist dieses Gefühl absolut verbunden mit einem Erlebnis in den Bergen, allein, noch früh am Morgen, aber die Waldgrenze schon durchschritten. Die Gigantik der Bergwände, die Stille und man selbst so klein, beinahe nichts, und doch: auf einmal so voller Leben, und so voller trotzigem Lebenswillen, die Hand sicher am Gestein, das in diesem Augenblick selbst warm vor Leben erschien. Am Gipfel angekommen, stieg ein Adler vom Tal zur Sonne, als nehme er die Grüße des Lebens mit zur Höhe, zum Licht. Dies war einer derjenigen Tage, die mich stark verändert haben.

Wir singen jetzt: Die grauen Nebel hat das Licht durchdrungen

Neugier aufs Leben hat aber auch viele andere Facetten. Es kann eine Sprache sein, die man neu erlernt, und mit der man sich eine andere Gedankenwelt, zumindest teilweise, erschließt – denn jede Übersetzung ist etwas Unvollkommenes, ein nicht ganz treffendes Konstrukt. Es kann auch nur eine ungewöhnliche Handlung sein, z.B. das Singen eines Volkslieds, einfach so, auf der Straße.
Vor allem aber richtet sich diese Neugier aufs Leben auf den Kontakt mit anderen Menschen, das Kennenlernen von bisher Unbekannten.
Die Neugier aufs Leben hat mich vor ziemlich genau vier Jahren zur Gildenschaft getragen, zu den Bünden. Und dort fand ich eben dieses wieder, einen Kerngedanken der Jugendbewegung: grenzenlose Neugier aufs Leben.

Diese beinhaltet die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu blicken, sich einzulassen auf Gedanken, die vielleicht die eigene liebgewonnene, gehegte Gedankenwelt bis auf den Grund erschüttern. Gerade auch zu denen zu gehen, vor denen man immer gewarnt wurde: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!“
Zu denen, über die sich Gerüchte ranken, und denen man allerlei nachsagt. Sei es im eigenen Umfeld, sei es in der Gesellschaft im Allgemeinen.

Warum? Johann Gottlieb Fichte hat zum Aufeinanderwirken von Menschen folgende Zeilen geschrieben:

„Selten ist Jemand so vollkommen, dass er nicht fast durch jeden anderen wenigstens von irgend einer, vielleicht unwichtig scheinenden, oder übersehenen Seite sollte ausgebildet werden können.“

Das Brechen von Tabus und Kontaktverboten, das ist etwas, das ich selbst seit vielen Jahren in verschiedenste Richtungen immer wieder getan habe, und das mich vielleicht stärker verändert hat als alles andere, was ich in meinem Leben sonst erlebt habe. Getrieben hatte mich eben diese Neugier aufs Leben: fassen zu wollen, was andere denken, und begreifen zu wollen, WARUM sie das denken, was sie denken. Die Geschichten hinter den Menschen. Und auf einmal stellt man fest, dass diese anderen, die mit dem Tabu belegt sind, genauso Menschen sind wie man selbst. Menschen, die eine Geschichte haben, deren Ansichten sich häufig aus dieser individuellen Geschichte heraus erklären. Menschen, die an der Welt leiden, leben wollen und sich freuen wie man selbst. Die Oberfläche verschwindet, und dahinter wird das rein Menschliche sichtbar – das, was bleibt. Nicht alles kann man vollkommen verstehen. Natürlich erlebt man auch Verletzung und Enttäuschung, wenn man sich auf andere Menschen einlässt. Man kann auch erleben, wie wir in jüngster Zeit selbst erfahren haben, dass man auf einmal selbst unter ein Tabu, ein Isolationsgebot fällt, selbst zu dem wird, worüber sich Gerüchte ranken. Aber auch das ist ein Teil des Lebens und ein Beitrag zum eigenen Werden.

Zur Neugier aufs Leben gehört auch die Entwicklung einer gewissen Gelassenheit sich selbst gegenüber und gegenüber dem, was einem zustößt. Vertrauen auch, Vertrauen darin, dass alles, was geschieht, auch das Traurige, auch Leiden und Angst, der richtige Weg für einen selbst ist, der, für den man bestimmt ist. Das fällt nicht immer leicht, aber auch hier weist uns die Neugier den Weg: hier verändert sich die kindliche, spannungsgeladene Neugier in die objektive und nüchterne Neugier des Wissenschaftlers und Forschers.

Marie von Ebner-Eschenbach hat dies so ausgedrückt:
„Wenn die Neugier sich auf ernsthafte Dinge richtet, dann nennt man sie Wissensdrang.“

Denn nicht nur Fachthemen, auch man selbst kann zum Objekt der eigenen wissenschaftlichen, rationalen Neugier werden. Man muß sich nur angewöhnen, sich anders zu betrachten. Empfindungsloser, nüchterner, kälter. Sozusagen aus einem Blick von oben. „Wegzoomen“ aus der aktuellen Situation, bis man selbst unter den anderen Menschen so klein erscheint, als betrachte man sich und die anderen im Tal, von einem Berggipfel aus. Diese Perspektive verändert die Dimension, die persönliche Betroffenheit schwindet fast ganz.
Und immer steigen wir eine Stufe im eigenen Werden nach oben.

Hermann Hesse schrieb über diesen Werdegang ein sehr treffendes Gedicht.

Stufen

Wir sind hier, an der Kneipe am Moor, zusammengekommen, um vielleicht auch an diesem Wochenende einen neuen Aufbruch zu setzen. Und vielleicht ist der heutige Tag einer der starken Tage sein, an deren Abend wir anders sind als an diesem Morgen – weil die Neugier aufs Leben uns Menschen näher gebracht hat, die uns verändert haben.

Zum Abschluß singen wir
Endlos lang zieht sich die Straße.

gehalten im November 2009 an einem Aktivenwochenende der Deutschen Gildenschaft

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