Karstfahrt – Tag 5 – Vom Kohnstein bis zum Himmelreich

Gefallenendenkmal in Gudersleben

Gefallenendenkmal in Gudersleben

05.07.2012 – Einige Zeit geht es durch den Wald, dann sehen wir vom Waldrand aus das Dorf Hörningen vor uns liegen, das wir aber nicht durchqueren werden. Unser Weg führt am Waldrand entlang bis zum Naturschutzgebiet Sattelköpfe. Hier beginnt ein Teil der Landschaft, die zumindest ich mir immer vorgestellt habe, wenn mir das Wort „Karst“ untergekommen ist: Halbtrockenrasen, durchsetzt von freiliegenden Dolomit- und Gipsfelsen, in Täler und Mulden zergliedert und hin und wieder gebüschbestanden. Die Sonne zeigt sich, zahlreiche Schmetterlinge fliegen über blühende Blumen. Leider bleibt nicht genug Zeit, die Botanik dieser Landschaft ausgiebig zu erkunden, wir wollen ja auch heute ein Stück weiter kommen – irgendwann werde ich sicherlich wieder hierher zurückkommen und dann mehr Zeit für die Pflanzen mitbringen. Durch das Aschertal steigen wir hinunter, die Landschaft wirkt an dieser Stelle beinahe ein wenig wie in den Voralpen. Am Fuß der Hügel angekommen, erwarten uns hochgewachsene, nasse Wiesen rund um das Becken des Igelsumpfes. Jetzt erweist sich die gute Beschilderung als zwingend notwendig: der Weg ist stellenweise nicht oder nur in Form von hin und wieder niedergetretenen Pflanzen erkennbar, der Bewuchs häufig sogar hüfthoch. Der viele Regen der Vergangenheit ließ offenbar den Bewuchs so schnell hochkommen, daß man mit dem Ausmähen der Wege nicht mehr hinterherkam.
Sattelkoepfe

Sattelkoepfe

Schließlich haben wir den Kreuzungspunkt südlich von Gudersleben erreicht, an dem sich die Nord- und Südroute des Westteils des Karstwanderwegs trennen. Wir entscheiden uns, die nördliche Route zu wählen, kreuzen die Wieda und wandern auf ungemähtem, hüfthoch bewachsenem, nicht mehr erkennbarem Pfad auf löchrigem Untergrund nach Gudersleben hinein, während die Regenwolken über uns sich entscheiden, all ihre Wasser auf uns zu entleeren. Glücklicherweise liegt gleich am Ortseingang der Friedhof mit einer Aussegnungshalle, die ein umfangreiches Vordach aufweist – hier lassen wir uns nieder, bis der Regenguß endet. Dann gehen wir über den Friedhof, der ein großes Gefallenendenkmal aufweist, hinaus in den ländlich geprägten Ort und verlassen ihn wieder in nördlicher Richtung. Ein Teil dieser Wegstrecke ist von Kirschbäumen gesäumt, dann haben wir das Aussiedlergehöft der Lochmühle erreicht und wenden uns wieder dem nächsten Wald zu. An einer feuchten Stelle am Boden sammeln sich Hunderte von Kohlweißlingen und fliegen aufgeschreckt umher, als unsere Schritte sie stören. Nun wandern wir wieder ein gutes Stück durch den Wald, dann steigen wir durch eine Landschaft aus lichtem Gehölz und Halbtrockenrasen steil bergab bis zu einem Abbaugebiet bei Ellrich.

Kohlweißlinge an der Lochmühle

Kohlweißlinge an der Lochmühle

Nach dem Passieren einer größeren Straße wandern wir durch den lichten Wald des Standorts Juliushütte, einst Außenlager des KZ Mittelbau-Dora, später von Flüchtlingen bewohnt und in den sechziger Jahren schließlich geschleift. Auf einer Hinweistafel heißt es: „An zahlreichen Stellen der Südharzer Karstlandschaft wurden in den letzten Kriegsjahren unterirdische Produktionsstätten für Flugzeugteile und V-Waffen errichtet, so in der Heimkehle bei Uftrungen, bei Stempeda, Niedersachswerfen, Woffleben und Ellrich.“ Anzusehen ist dem schmalen Waldweg diese Vergangenheit nicht, ohne diese Tafel hätte man diesen Wald für einen ganz normalen Wald gehalten.

Später führt der Weg wieder steil bergan, bis wir die Höhe des Himmelreichs, ein Gipsmassiv, erklommen haben, die von lichtem Buchenwald bedeckt ist. Ein erster Ausblick auf die Landschaft unter uns öffnet sich mit dem Hexentanzplatz, ein angelegtes Plateau mit einer Hinweistafel, auf der in handgeschriebenen Druckbuchstaben, möglicherweise von Kindern geschrieben, zu lesen ist:
„Hier befand ich eine Kultstätte der damals hier lebenden Chatten. Die Walkenrieder Mönche nannten den Berg Himmelreich. Unter uns befindet sich eine große Höhle. Schon immer verlief hier eine Grenze. Unter der Beherrschung Napoleons wurden hier die Grenzen bewacht, denn der Schmuggel blühte.
Im 18. Jahrhundert holten die Ellricher Burschen, am ersten Pfingsttag, bei Sonnenaufgang, mit lustigem Gesang ihre Pfingstbraut, mit welcher sie ein Jahr tanzen mußten. Mädchen bildeten einen Kreis und hatten einen Birkenzweig in der Hand, den Burschen waren die Augen verbunden, hielt er bei der Bewegung des Kreises einen Zweig fest, so war sie seine Pfingstbraut“.

Sachen gibt’s… und Ellrich kennt noch andere Sagen. So soll es einst ein zünftiges Gelage gegeben haben, bei der alle Ritter aus der ganzen Umgebung zu einem Trinkwettbewerb antraten. Der tüchtigste Trinker mußte alle andere unter den Tisch trinken, selbst aber noch imstande sein, aufrecht den Siegespreis, eine schwere goldene Kette, entgegenzunehmen, sie umzuhängen und sich dem Volk von Ellrich als Sieger zu präsentieren. Diesen Wettbewerb soll der berüchtigte Graf Ernst von Klettenburg für sich gewonnen haben, nahm die Kette, bestieg sein Roß und sprengte in wildem Galopp mitten vor den Altar der Kirche des heiligen Nikolaus in Ellrich. Als Strafe für seinen Frevel wurde er vom Blitz getroffen, nur die vier Hufeisen des Pferdes blieben von Roß und Reiter übrig. Diese sollen noch lange an der Kirchentür angenagelt gehangen sein, um im Volk das Bewußtsein für solche Schandtaten und deren Bestrafung wachzuhalten. (1)

Eine ganz reale Besonderheit ist allerdings die oben schon erwähnte große Höhle, die Himmelreichhöhle. Ihre Wasser verbinden die unterhalb des Himmelreichs gelegenen Gewässer, die Pontelteiche mit dem Itelteich. Entdeckt wurde diese Höhle während der Bauarbeiten eines Eisenbahntunnels durch das Gipsmassiv des Himmelreichs. Ihre Ausmaße stellen alle natürlichen Hohlräume in deutschen Mittelgebirgen in den Schatten: mit 170 Meter Länge, 85 Meter Breite und 15 Meter Deckenhöhe hat sie wahrhaft riesenhafte Ausmaße. Über Tunnelbau und Entdeckung, Sicherung und Nutzung der Höhle findet sich folgendes spannende Dokument im Netz: Fritz Reinboth, Die Himmelreichhöhle bei Walkenried und ihre Geschichte.

Wunderschön ist es hier oben im Himmelreich, knorrige Buchen bilden eigenartige Formationen, der Weg verläuft weich und schön geschwungen an der Abbruchkante entlang, und immer wieder öffnet sich ein romantischer Blick auf Klippen und den weit unten liegenden Itelteich. Es ist noch lange nicht Abend, und eigentlich haben wir uns vorgenommen, auch Walkenried noch zu passieren, aber durch die Baumkronen hindurch sehen wir dunkle, mächtige Gewitterwolken aufziehen. Immer wieder donnert es in der Ferne. So beschließen wir, die Schutzhütte im Himmelreich als Nachtquartier zu beziehen und somit zumindest ein festes Dach über dem Kopf zu haben, wenn das Gewitter heranzieht. Wir haben Glück: uns trifft es nicht, es zieht vorüber, ohne das Himmelreich zu berühren. Später lesen wir in einer regionalen Zeitung, daß das Unwetter dieser Nacht in mehreren Orten, unter anderem in Osterode, für Starkregen und zahlreiche überflutete Keller gesorgt hatte …

Das Himmelreich blieb uns also gewogen und machte seinem Name alle Ehre, indem es uns die fünfte Fahrtennacht trocken überstehen ließ!

Blick vom Himmelreich auf den Itelteich

Blick vom Himmelreich auf den Itelteich



(1) ausführlicher: Die vier Hufeisen zu Ellrich in: Im Zauberbann des Harzgebirges. Harz-Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann, neu herausgegeben von Eva Gussek, Verlag Dr. Bussert & Stadeler, Jena/ Quedlinburg 2002, S. 187 f.

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