Feuerrede

Feuer
Freiheit. Freiheit ist ein Wort, das sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte zieht. Immer schon haben sich Menschen nach individueller Freiheit,  Freiheit für ihre Familien oder ihr Volk gesehnt, dafür übermenschliche Anstrengungen oder gar den Tod auf sich genommen.

Auch in Deutschland ist das nicht anders. Und gerade in Deutschland , gerade in der Neuzeitgeschichte Deutschlands war Freiheit nie eine Selbstverständlichkeit, sondern immer mit Sehnsucht, Erringen und hohem persönlichem Opfer verbunden.

Erst in jüngster Zeit, nach dem zweiten Weltkrieg im westlichen Teil Deutschlands, seit der Wiedervereinigung auch im östlichen Teil der Bundesrepublik, schien Freiheit etwas geworden zu sein, das einem von Geburt an in Form von Grund- und Menschenrechten zusteht. Es schien, als ginge die Freiheit goldenen Zeiten entgegen, als sei es nicht mehr notwendig, dafür Opfer zu bringen, darum zu ringen, sich dafür einzusetzen.

Doch auch dieser Schein bröckelt. Wenn wir die Medienberichterstattung seit dem 11. September 2001 betrachten, fallen uns zunehmend Vorhaben auf, die unsere Sicherheit garantieren sollen. Zuweilen ist auch von westlichen Freiheiten die Rede, die es zu verteidigen gilt.

Die Maßnahmen zur Verteidigung westlicher Freiheiten lauten: biometrische Reisepässe, Fluggastdatenspeicherung, EU-Zentraldatei für Fingerabdrücke, Vorratsdatenspeicherung, EU-Haftbefehl, Nacktscanner, Steueridentifikationsnummer, Einsatz der Bundeswehr im Inneren,  Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, Mautsystem an Autobahnen, Bundestrojaner, Videoüberwachung.

Ist das die Freiheit, westliche Freiheit, die unseren Sehnsüchten und Wünschen entspricht? Hat Freiheit, so gebraucht, noch ihren alten, schönen Klang, das Feuer, das die Herzen entzündet und ergreift?

Ilija Trojanow und Juli Zeh haben in ihrem Buch „Angriff auf die Freiheit“ folgende Zeilen geschrieben:

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann eine Demokratie untergeht, wann ein Rechtsstaat zur leeren Hülle verkommt. Es gibt kein Maßband, keine Stoppuhr, keinen Lackmustest. Nirgendwo warnt ein Schild: „Vorsicht! Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor!“

Im historischen Rückblick mag es im jeweiligen Fall offensichtlich scheinen, ab welchem Punkt die Freiheit irreversibel beschädigt wurde – im Falle des Nationalsozialismus etwa durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Dann wird in die Vergangenheit hineingefragt: „Wie konntet ihr das drohende Unheil nicht erkennen? Das mußtet Ihr doch kommen sehen! Warum habt ihr euch nicht gewehrt?“ Und als Antwort hören wir nur das schwindelerregende Schweigen angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Laufs der Dinge.

Eine treffende Selbstdiagnose aus der Mitte des unmittelbaren Geschehens heraus ist ein Ding der Unmöglichkeit. Uns Zeitgenossen fehlt es am notwendigen Abstand; es fehlt schlicht an Kenntnissen über den zukünftigen Verlauf der Ereignisse. Die Folgen politischer Entwicklungen treten mal langsamer, mal schneller ein, stets aber aufeinander aufbauend, sich gegenseitig beeinflussend und daher vielschichtig.

Weil sich die Freiheit eben nicht mit einem Paukenschlag verabschiedet, krankt jedes gut funktionierende System daran, daß sich seine wohlmeinenden Anhänger in (falscher) Sicherheit wiegen. Sie vergessen, daß sie ihre Freiheit nicht etwa vom Staat erhalten, sondern daß sie, im Gegenteil, einen Teil ihrer Rechte an den Staat abgeben.“

(Ilija Trojanow/ Juli Zeh, Angriff auf die Freiheit, S.15)

Das schwindelerregende Schweigen, das die Autoren in diesem Abschnitt benennen, scheint weniger auf die Zeit des Nationalsozialismus bezogen, als vielmehr unser Heute zu erklären. Die Autoren haben keinen historischen Rückblick geschrieben, sondern einen Appell an den Einzelnen, die bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen.

Wir wollen jetzt das Feuer entzünden.

„Freiheit ist ein Wert, der von jeder Generation, von jedem Einzelnen neu erkämpft und verteidigt werden muß. Auch von uns.“

Denn ernsthafter Widerstand in der Bevölkerung gegen die vermeintlichen Notwendigkeiten des Kampfs gegen den Terror bleibt aus. Zwar gibt es Bürgerinitiativen und Menschen, die in manchen Fällen eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen. Aber es gibt keine ernstzunehmenden Massendemonstrationen, und Politiker, Wissenschaftler und Zeitungsredaktionen werden nicht mit ungezählten Protestbriefen überschüttet, wenn sie neue Ideen in der Öffentlichkeit ausbreiten, wie mit mehr Überwachung die Sicherheit aller verbessert werden soll. Manchmal scheint es, es liege eine Lähmung über dem Land. Und wenn man in sich hineinhorcht, findet man dieselbe Lähmung auch in sich selbst.

Woher kommt diese Lähmung? Warum wehren wir uns nicht, sondern nehmen alle politischen, gesetzlichen Einschnitte hin, die sowohl unsere persönliche, individuelle Freiheit beschränken als auch – in der Abgabe von Souveränität an die EU – unsere Freiheit als Volk, unsere Geschicke, unsere Zukunft selbst zu bestimmen?

Deutsche Freiheit: Heinrich Hoffmann von Fallersleben schrieb darüber ein Gedicht:

„Deutsche Freiheit lebet nur im Liede.
Deutsches Recht – es ist ein Märchen nur!
Deutschlands Wohlfahrt ist ein Friede
Voll von Willkür und Zensur!“

Warum fühlen wir darin unsere Situation auch heute wieder durchaus treffend charakterisiert, unternehmen aber keine Versuche, daran etwas zu ändern?

Die Antwort darauf ist nicht einfach zu finden. Im Gegensatz zur Vergangenheit droht uns heute keine Gefahr für Leib und Leben. Wir würden keine KZ-Haft riskieren, keine Ermordung, keine Todesstrafe aufgrund politischer Mißliebigkeit, der etwa die Weiße Rose zum Opfer fiel. Und doch nehmen wir hin, fühlen unsere Ohnmacht im Lauf der Zeiten und schweigen.

Wo ist unsere Zivilcourage? Wo zeigen wir Gesicht? Wo sind wir mutig, wo mucken wir auf?

Wir tun es nicht, obwohl diese Zeiten als Zeiten der Zivilcourage geradezu gefeiert werden. An einer alten Wahrheit scheint viel dran zu sein: wo manche Worte geradezu inflationär gebraucht werden, findet sich in ihnen am wenigsten Inhalt und Leben.

Wir singen jetzt das Lied: die Gedanken sind frei.

Selbst dieses Lied enthält eine Strophe, die mich beim Singen jedesmal erschauern läßt. Habt Ihr einmal darüber nachgedacht, daß diese Lähmung, das ohnmächtige Schweigen bereits in diesem Lied besungen werden?

„Ich denke, was ich will und was mich beglücket, und alles in der Still, und wie es sich schicket.“

Die stille, die erlaubte Zivilcourage, die Freiheit mit Genehmigung: ja, das ist es durchaus, was wir heute erleben.

Die Antwort nach dem Warum steht noch immer aus, und die Antwort ist keineswegs leicht zu finden. Ich glaube, daß die Passivität, die unser Leben dominiert, einen guten Teil der Antwort enthält. Passivität, die aus dem Wohlstand der vergangenen Jahrzehnte resultiert.

Statt gemeinsamer Unternehmungen sitzen wir vor dem Fernseher und lassen uns berieseln mit dem fiktiven oder realen Leben anderer. Statt selbst Musik zu machen, hören wir Radio und CDs. Auch unsere Nahrung kaufen wir als Fertiggericht im Supermarkt. Wir sehen weder, wie die Pflanzen und Tiere, die wir essen, groß wurden, noch wissen wir, welche Arbeit und Mühe hinter ihrer Aufzucht steckt. Genauso ist es mit unserer Kleidung: auch hier kaufen wir passiv ein. Wir lesen Zeitung und hoffen darauf, daß andere die Dinge, die uns stören, schon thematisieren oder ausräumen werden.

Vielleicht trifft das für uns in den Bünden nicht ganz so drastisch zu. Immerhin: wir machen noch selbst Musik, singen noch selbst Lieder, versuchen, dem Fernseher keine dominierende Rolle in unserem Leben zuzugestehen. Aber auch wir sind eingebunden in die Kette der gesättigten Passivität.

Auf der politischen Ebene wird diese Lähmung noch durch die Tatsache gesteigert, daß wir vieles aus Unwissenheit unterlassen. Wer von uns hat denn schon gelernt, wie die rechtlichen Grundlagen aussehen, innerhalb derer man politischen Protest artikulieren kann? Wer von uns hat in der Schule oder an der Universität gelernt, wie man z.B. eine Demonstration anmeldet, was man bei der Gestaltung von Flugblättern rechtlich beachten muß, welche Protestrechte man überhaupt hat? Wie man eine Bürgerinitiative organisiert? In welchen Fällen Volksbegehren zulässig sind, und was man bei der konkreten Ausführung beachten muß?

Das Rechtssystem im heutigen Deutschland ist auf unüberschaubare Weise ausdifferenziert und mitunter selbst für Fachleute nicht mehr zu durchdringen. Der Laie steht gänzlich hilflos davor und fragt sich, ob seine Aktivität nicht womöglich mit einem Bein in den Gesetzesverstoß führt – die Folge ist: Passivität und Lähmung. Wir schweigen aus Angst, persönlich haften zu müssen für etwas, das wir nicht abschätzen konnten, wir schweigen aus Angst vor juristischen Folgen, die uns sowohl zeitliche als auch finanzielle Ressourcen kosten würden, die wir nicht haben.

Und wir schweigen, weil wir das Gefühl haben, daß die spätestens seit 68 etablierten Formen des Protestes nicht mehr nützen.  Ich habe nicht nur einmal in meinem Leben Demonstrationen besucht, eine zeitlang sogar ziemlich regelmäßig. Was zurückblieb, war jedesmal ein Gefühl von tiefer Depression: alles war bunt, laut, voller Luftballons und Kinderwägen, ein paar markige – und sachlich häufig wenig fundierte – Worte wurden gesprochen, und anschließend ging man ein Eis essen oder in die Pizzeria. Geändert hat sich nichts, all das Bunte, Laute, Aufmuckende ist zur Institution geworden, die den Status quo nur befestigt, nicht erschüttert. Die Unzufriedenheit mit manchen politischen Verläufen wurde in Demonstrationsfesten kanalisiert und dort befriedet. Die Ziele, aufgrund derer eine solche Demonstration stattfand, wurden regelmäßig nicht erreicht, denn von solchen Demonstrationen geht kein Einfluß mehr aus. Zurück bleibt Ratlosigkeit: wenn die alten Formen des Protests sich überlebt haben, nur noch Eventcharakter besitzen – was für neue Formen wären dann heute möglich und notwendig? Jedes Experiment scheint bereits durchgeführt, jeder Tabubruch zur Norm geworden und damit in seinem Effekt verblaßt.

Was können wir tun? Ich denke oft darüber nach, und die Antwort, die ich für mich finde, ist jedesmal dieselbe. Es ist eine Antwort, die sich im Wesentlichen aus zwei Anteilen speist. 

  1. Der Passivität im eigenen Leben nachgehen und an den wichtigen Stellen durch Aktivität ersetzen.
  2. Die Arbeit am Überwinden von Angst.

Insbesondere das Überwinden von Angst erscheint mir als Grundlage für jedes weitere Engagement.

Ernst Jünger schrieb in seinen Tagebuchnotizen „Strahlungen I“:

„Immer lockt auch die nackte Furcht das Schreckliche herbei. So reizt, wer flieht, schon zur Verfolgung an; und so belauert ein Mensch, der Böses plant, sein Opfer – die letzte Schranke wird fallen, wenn er Zeichen der Angst an ihm erkennt. Daher ist es sehr wichtig, daß man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Walde angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt.

In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen, und deren Bann auch von den Tieren empfunden wird. Man muß nur wissen,(…), daß man unverletzlich ist.

Man muß nur wissen, daß man unverletzlich ist. Dieser Satz ist der Schlüssel zur inneren Freiheit.

Das Erlangen der inneren Freiheit ist keine Revolte gegen das Schicksal, keine Revolte gegen die Zeit, in der wir leben. Es ist eine individuelle Umkehr der Prioritäten und eine persönliche Ankoppelung an Kräfte, die über den Zeitverläufen stehen. Und es ist kein Prozeß, der sich von heute auf morgen vollziehen ließe. Die Art und Weise, wie  wir aufgewachsen sind und erzogen wurden, das gute Leben, an das wir gewöhnt sind, steht diesem Prozeß im Wege.

Aus meinen sieben Jahren Lateinunterricht an der Schule blieb mir ein einziger Satz ins Gedächtnis gebrannt erhalten, wenn auch leider nur sinngemäß und in Unkenntnis des Urhebers: „Du darfst alles tun, sofern Du nur jederzeit damit aufhören könntest.“

Dieser Satz ist für mich – genauso wie das obige Jünger-Zitat, zu einem Schlüsselsatz geworden. Das gute Leben, an das wir gewöhnt wurden, die fetten Jahre, in denen wir groß geworden sind: das ist nichts Verdammenswertes, nichts, was man zwangsweise von sich wegstoßen sollte. Aber man sollte sein Herz nicht daran hängen: nicht an materiellen Besitz, nicht an eine warme Dusche, an überreiche Mahlzeiten, ein symbolträchtiges Auto, ein großes Haus, eine beruflich statussichernde Stellung. Man sollte wissen, daß diese Dinge vergänglich sind, daß es sich hierbei nicht um lebenslange Garantiescheine handelt, und daß diese Dinge nicht den eigentlichen, bleibenden und dauerhaften Wert eines Menschen ausmachen. Diese Dinge sind allenfalls ein temporäres Geschenk. Für das Erlangen innerer Freiheit ist eine innere Unabhängigkeit davon essentiell. Und eben das ist nicht leicht, wenn man sein Leben lang an das Vorhandensein dieser Dinge gewöhnt war. Es gibt kein Patentrezept für diesen Weg, und nicht jeder wird ihn gleich weit gehen.

Was dabei hilft, ist das Ankoppeln an Kräfte, die über den Zeitverläufen stehen: Vertrauen in das, was die Welt im Innersten zusammenhält, in die Gesetze der Natur und den Sinn hinter den geschichtlichen Abläufen. Vertrauen darin, daß unser eigenes Schicksal uns entspricht, das Richtige für uns ist, wie es auch kommen mag. Verzicht darauf, vermeintlich verpaßten Möglichkeiten hinterherzutrauern oder gegen das eigene Geschick zu hadern. Der Weg, den wir gehen, ist immer der Richtige. Wir können nicht irren, weil alles, auch das Traurige, das Angsteinflößende, das auf den ersten Blick Unbefriedigende unser Schicksal und unser Weg ist. Unsere Aufgabe ist nur, unser Schicksal zu erspüren und rein in uns zu entfalten, sich ihm zu öffnen, wie es auch kommen mag. Das ist das Ziel, und auf dem Weg dorthin geht die Angst verloren, trotz aller eventueller Konsequenzen.

Aus dieser inneren Freiheit, diesem Vertrauen in die Welt als Ganzes heraus hat kann sich die Kraft entfalten, sich der allgemeinen Lähmung, der Käseglockenatmosphäre, die über diesem Land liegt, zu widersetzen und den Wert der Freiheit wieder lodernd und kraftvoll im Herzen zu tragen.

Freiheit ist Leben.

Der Sinn des Lebens ist, zu leben. Übers Leben hat Herrmann Hesse ein sehr treffendes Gedicht geschrieben, das Gedicht „Stufen“:

(…)
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and’re, neue Bindungen zu geben.

(…)
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.

(…)

Mit diesem Bewußtsein, frei zu sein für jeden Lebensruf, wollen wir jetzt die dritte Strophe des Lieds der Deutschen singen: in der Hoffnung auf Recht und Freiheit für uns und unser Volk.

 

 

gehalten am 15.05.2010, veröffentlicht in den „Blättern der Deutschen Gildenschaft“, 2010

Dieser Beitrag wurde unter Neu abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.