Gedanken an den Tod


Der November wird nicht nur Nebelmonat, sondern häufig auch Totenmonat genannt, und es heißt, um diese Zeit stürben mehr Leute als zu anderen Zeiten im Jahr. Auch mein Vater wurde in einem November dem Leben entrissen, er starb vor drei Jahren „nach kurzer schwerer Krankheit“, es war damals der erste Advent. Im Tod eines nahen Angehörigen begreifen wir den Tod als Feind, als jemanden, der in unser Leben greift und uns eine uns wichtige Person entreißt. Im Fall des Vaters eine, ohne die das eigene Leben nie gewesen war, und ohne dessen Liebe das eigene Leben nie gewesen war. Mein Vater war ein besonderer Mensch, kein autoritärer Vater, sondern auf eine ganz besondere Weise gut, im wahrsten Sinne des Wortes. Er war liberal auf eine altmodische, liebenswerte Weise, eine Weise, wie man sie heute mit dem Wort „liberal“ nicht mehr verbinden mag, das nur noch Egoismus, Ellenbogen, Kälte und zahnpastalächelnde Selbstdarstellung auszustrahlen scheint.

Diese alte Form des Liberalismus war das Gegenteil davon: verantwortungsbewußt, sich selbst zurücknehmend, verständnisvoll, humanistisch gebildet und auf eine sachliche Weise tolerant. So war mein Vater, darüber hinaus von innen her Christ im besten Sinne, nicht im Sinne einer strikten Wort- oder papierenen Bibelgläubigkeit, sondern die Ideale lebend oder zu leben versuchend.
Als er starb, habe ich das erste Mal erfahren, daß ein solcher Schmerz über den Tod nicht nur ein seelischer, psychischer Schmerz ist, sondern daß er physisch wird, physisch erlebbare Schmerzen auslöst, in den Nächten, in denen sich die Tränen, tagsüber bemüht zurückgehalten, um den anderen ihren Schmerz nicht noch schwerer zu machen, nicht mehr zurückhalten lassen. Nicht, daß es der erste Tod war – schon als Kind wurde man ja damit konfrontiert, wie geliebte Haustiere starben und nicht mehr wiederkehrten, später starben auch Menschen, die einem nahestanden. Aber der Tod eines Elternteils ist etwas anderes, weil er einen in der Generationenkette um ein Stück verrückt, einen nicht dort läßt, wo man vorher stand – als Kind. Spätestens jetzt muß man erwachsen werden, vielleicht auch das ein Stück von dem Schmerz, den der Tod – als Feind – in das eigene Leben gerissen hat.

Und wie damit umgehen? Wo findet man Trost oder Halt? Der Gedanke, daß der Tod nicht nur Feind, sondern auch Freund ist, hilft dabei. Feind für die Angehörigen, die zurückbleiben, aber für denjenigen, der gestorben ist, vielleicht auch und gerade Erlösung von einem Leben, dem unweigerlich schweres Leiden gefolgt wäre, vielleicht auch Erlösung davor, Dinge zu sehen, die die Zukunft in der eigenen Umgebung, Familie oder im Heimatland anrichten wird.

Als Freund hatte ich den Tod schon vor Jahren akzeptieren können, er wurde mein Begleiter auf zahlreichen Alleingängen in der Bergwelt. Die Anziehungskraft der Berge, die Faszination und Sucht nach dem Bergerlebnis ist wahrscheinlich immer zumindest ein Stück weit der Nähe des Todes geschuldet. Ein falscher Griff, ein falscher Tritt, ein Stolpern und Fallen am falschen Platz, ein falsch ausgelöster Stein, ein rutschiges Wegstück, ein Blitz, der an der falschen Stelle durch die Felsen zuckt – und der Tod wäre da, würde seine Hand reichen und einen mit sich nehmen. Der Blick in den Abgrund offenbart seine Nähe, und so manches Mal, wenn einem das Leben im Tal zur Hölle wurde, zog einen der Tod in die Berge, sog einen an mit seinen schroffen Felsen und seiner Naturgewalt. Auf der anderen Seite steht im Alleingang die Suche nach dem Göttlichen, nur scheinbarer Kontrast zur Präsenz des Todes, denn das Göttliche entstammt demselben Ursprung, wird nur gedacht als schöner Gegenpart, ist aber faktisch nichts anderes als Tod, der Leben in sich trägt. Das Göttliche ist das Licht, ist Himmel und Weite und Sehnsucht, der Tod ist der Weg dorthin, der Weg ins Licht, das Einswerden mit allem, was ist, das dem Lebenden versagt bleibt. In der Vereinigung von Tod und Göttlichem liegt das eigentliche Leben, das, aus dem alles hervorgeht und wieder vergeht – der ewige Kreislauf der Natur, vielleicht nur in den Bergen so nahe und verständlich, vielleicht auch auf dem Meer, mir jedoch fremd.

Mit dem Blick in den Abgrund, in den Tod, wird einem das Leben präsent, wird der Lebenswille auf eine Weise geschärft, die jedes Details des Körpers erfaßt, jedes Molekül, jedes Atom, jede Elektronenwolke. Leben! Leben! Leben! Die Weite am Gipfel, dem Göttlichen so nahe, nach den Hängen, die einem dem Tod nahe sein ließen, ohne den man nie erfahren hätte, was Leben, Lebenswillen heißt, ein Erlebnis, das einen schützt vor allem Unbill, das das Leben mit sich bringt, weil es sich wachrufen läßt, immer und immer wieder, einem Kraft gibt, einen aufrichtet. Nur durch den Tod als Begleiter wird das Leben intensiv, und so verhindert der Tod sich selbst, indem er mit dem Lebenswillen das Aufgeben bekämpft und dennoch beruhigend im Hintergrund steht – es kann nichts schiefgehen, denn wenn es gar nicht mehr ginge, wäre er da.

Den Tod als Freund zu akzeptieren, bedeutet auch, Vertrauen zu entwickeln, daß er es ist, der den richtigen Zeitpunkt kennt, und man ihm nicht hineinreden oder einen falschen Zeitpunkt herbeiwünschen sollte. Er, der Vater des Lebens, des Lebenswillens, ist dann da, wenn es Zeit ist, und bis dahin wird das Leben nie mehr an Schwierigkeiten und Schmerz bereithalten, als man zu bewältigen vermag.
Es gibt ein Gedicht von Adalbert von Chamisso, das zwar nicht den Tod besingt, aber doch die Fähigkeit, zu dulden und zu ertragen, soviel einem vorherbestimmt ist – es ist nicht möglich, mit Vertrauen in das Göttliche und den Tod über die Grenzen der eigenen Kraft hinaus belastet zu werden.
Dieses Gedicht sei darum als Kraft- und Vertrauensspender an den Schluß gestellt:

Adalbert von Chamisso

Die Kreuzschau (1834)

Der Pilger, der die Höhen überstiegen,
Sah jenseits schon das ausgespannte Thal
In Abendglut vor seinen Füßen liegen.
Auf duft’ges Gras, im milden Sonnenstrahl
Streckt er ermattet sich zur Ruhe nieder,
Indem er seinem Schöpfer sich befahl.
Ihm fielen zu die matten Augenlider,
Doch seinen wachen Geist enthob ein Traum
Der ird’schen Hülle seiner trägen Glieder.
Der Schild der Sonne ward im Himmelsraum
Zu Gottes Angesicht, das Firmament
Zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum.
»Du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt,
Nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden,
Wenn seine Schwächen er vor dir bekennt.
Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden
Auch duldend tragen muß, ich weiß es lange,
Doch sind der Menschen Last und Leid verschieden.
Mein Kreuz ist allzu schwer; sieh‘, ich verlange
Die Last nur angemessen meiner Kraft;
Ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange.«
Wie so er sprach zum Höchsten kinderhaft,
Kam brausend her der Sturm und es geschah,
Daß aufwärts er sich fühlte hingerafft.
Und wie er Boden faßte, fand er da
Sich einsam in der Mitte räum’ger Hallen,
Wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah.
Und eine Stimme hört‘ er dröhnend hallen:
Hier aufgespeichert ist das Leid; du hast
Zu wählen unter diesen Kreuzen allen.
Versuchend ging er da, unschlüssig fast,
Von einem Kreuz zum anderen umher,
Sich auszuprüfen die bequem’re Last.
Dies Kreuz war ihm zu groß und das zu schwer,
So schwer und groß war jenes andre nicht,
Doch scharf von Kanten drückt‘ es desto mehr.
Das dort, das warf wie Gold ein gleißend Licht,
Das lockt‘ ihn, unversucht es nicht zu lassen;
Dem goldnen Glanz entsprach auch das Gewicht.
Er mochte dieses heben, jenes fassen,
Zu keinem neigte noch sich seine Wahl,
Es wollte keines, keines für ihn passen.
Durchmustert hatt‘ er schon die ganze Zahl –
Verlor’ne Müh‘! vergebens war’s geschehen!
Durchmustern mußt‘ er sie zum andernmal.
Und nun gewahrt‘ er, früher übersehen,
Ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein,
Und bei dem einen blieb er endlich stehen.
Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein
Ihm paßlich und gerecht nach Kraft und Maß:
Herr, rief er, so du willst, dies Kreuz sei mein!
Und wie er’s prüfend mit den Augen maß –
Es war dasselbe, das er sonst getragen,
Wogegen er zu murren sich vermaß.
Er lud es auf und trug’s nun sonder Klagen.

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2 Antworten zu Gedanken an den Tod

  1. Hallo Isa, schöne Worte – bekanntes Thema: auch ich empfinde dies so, wenn ich in den Bergen unterwegs bin. Und der Moment, in dem meine Füße plötzlich in einem nassen Steilhang ins Rutschen kamen, der Blick nach unten, hunderte Meter, der hat sich mir eingebrannt. Ich sehe zwar nicht überall den Tod und leite den Lebenswillen davon ab, aber, ja, er ist ein Teil der Empfindungen, die ich so nur in den Bergen habe.
    Viele Grüße, Mw.

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