Sonne, Du bist schuld daran?

Rundblaettrige Glockenblume - Campanula rotundifolia

Rundblaettrige Glockenblume – Campanula rotundifolia

09.08.2012 – Um 10 Uhr vormittags gehe ich vom Parkplatz am Bahnhof Steinerne Renne los. Eine Tageswanderung ist angesagt, in der sommerlichen Wärme trage ich kurze Hose und T-Shirt, dabei habe ich nur eine Regenjacke, Getränke und Vesper für den Tag. Warum ich das erwähne? Abwarten… Ursprünglich hatte ich vor, zum Gasthaus Steinerne Renne auf direktem Wege in den Harz hochzusteigen, zu den Ottofelsen zu wandern, von denen mir ein Bekannter aus Magdeburg vorgeschwärmt hatte, und durch das Thumkuhlental wieder abzusteigen, also eine nicht allzu lange Rundtour zu gehen. Bei einem Blick auf die Karte entscheide ich mich spontan anders: ich habe den ganzen Tag vor mir liegen, nichts zwingt mich, zu einer bestimmten Zeit wieder zurück zu sein. So wähle ich die Goslarsche Gleie als Aufstiegsweg in den Harz. Die Frische vom Morgen hängt noch in der Luft, es geht ein kurzes Stück durch Wald, dann öffnet er sich in eine gerodete Fläche, auf der sich erst allmählich ein neuer Wald bildet. Unzählige Weidenröschen blühen hier, eine einzelne Lärche steht am Wegesrand, die jungen Fichten und Ahorne sind erst höchstens bauchhoch gewachsen.
Roetelmaus - Myodes glareolus

Rötelmaus – Myodes glareolus

Immer schmaler und begrünter wird der Schotterweg, der mich bergan führt. Als er wieder in den Wald taucht, wird er zum Pfad; kein anderer Mensch ist hier unterwegs. Am Wegesrand sitzt eine Rötelmaus und blickt mich mit erschreckten Augen an, seltsamerweise flieht sie nicht, vielleicht ist sie verletzt oder krank. Wenig später bleibe ich unbeweglich und still stehen: vor mir schnürt ein Fuchs über den Weg, doch er hat mich schon gesichtet und verschwindet schnell im Unterholz. Endlich habe ich die Höhe erreicht und gehe auf nun wieder breiterem Weg an der Abhangkante entlang, genieße den Blick über das Tal der Steinernen Renne und auf die etwas entfernter liegende Harzstadt Wernigerode. Am Wegrand blüht die Rundblättrige Glockenblume, am Boden haben Schnecken eine achtförmige Schleimspur hinterlassen. Die Fichten bilden am Rand des Abhangs ein dunkles Gittermuster gegen den Himmel, als hätten sie die Funktion eines Zaunes. Einzelne Nebelfetzen hängen noch in weiter entfernten Harztälern. Nach einiger Zeit erreiche ich eine breite Forststraße, die Bielsteinchaussee, und folge ihr bis zur nahegelegenen Kreuzung an der Mönchsbuche.

Ausblick von der Goslarschen Gleie

Ausblick von der Goslarschen Gleie

Viel ist von dem sicherlich einst imposanten Baum nicht übriggeblieben, tot wirkte er auf den Betrachter, würden nicht noch hier und da einzelne grünblättrige Astgabeln aus dem gestutzten Baumrest sprießen. Eine Infotafel lehrt: „Seit Mitte des 13. Jahrhunderts verlief an dieser Stelle der Mönchstieg, eine Verbindung zwischen den Klöstern Himmelpforte und Ilsenburg. Hier rasteten die Mönche, wenn sie sich gegenseitig besuchten. Schon immer stand hier eine Buche.“

Wolfsklippen

Wolfsklippen

Leicht bergan geht es von hier aus in nordwestlicher Richtung auf dem breiten, geschotterten Oberförster-Koch-Weg weiter, dann, nach Kreuzung des Huyseburger-Häu-Weges, auf einem Waldpfad durch Fichtenwald, dem Alexanderstieg, zu den Wolfsklippen. Die Wolfsklippen bilden ein Steinfeld aus großen Granitblöcken mitten im Wald. Einst soll sich hier eine Jungfrau versteckt haben, die man wegen eines verschmähten Liebhabers der Hexerei bezichtigte. In der Nacht wurde sie auf eine geschwächte Wölfin aufmerksam, die auf hartem Lager ihre Jungen zur Welt brachte. Die junge Frau polsterte das Lager mit Laub aus und gab der Wölfin Wasser, bis sie wieder zu Kräften gekommen war; als die Wölfin wieder stark genug war, um jagen zu können, hütete sie ihre Jungen. Als der Graf, dem sie zuvor entkommen war, sie an den Wolfsklippen entdeckte, wurde sie selbst von der Wölfin beschützt; anschließend ging sie zu Verwandten nach Wernigerode, bei denen sie bleiben konnte. (1) Ein Aussichtsturm aus Metall, errichtet 1901, steht noch am oberen Ende der Wolfsklippen im dichten Fichtenwald. Einst muß man hier eine gute Aussicht auf die Umgebung gehabt haben, heute allerdings sind die Bäume hochgewachsen, und man sieht über die Wipfel nicht mehr hinaus.

FlechtenNachdem ich ausgiebig auf den Wolfsklippen herumgeturnt bin, um sie ganz zu erkunden, gehe ich noch ein kurzes Stück durch den Fichtenwald. Dann aber öffnet sich der Wald zu einem weiten Blick über die Harzfläche südlich von Ilsenburg. Ich bin ganz alleine hier oben, und die Landschaft mit ihrem kargen, öden und felsigen Charakter greift tief in mein Herz. Hier oben stehen, einen so weiten Blick über waldbestandene Hügel und Täler, über felsige Flächen in den Brauntönen ihrer Gras- und Heidelandschaft genießen: das ist Sehnsucht nach der Weite und Öde, gepaart mit einem leicht melancholischem Unterton, der aus den einsamen Wäldern steigt – das ist Glück, so intensiv empfunden, daß mein Herz beinahe springt. Vielleicht ist es doch wahr, daß einem die Landschaft tief im Blut liegt, wenn die eigenen Vorfahren aus Berg- und Mittelgebirgslandschaft stammen, vielleicht ist es aber auch eine allgemein menschliche Sehnsucht nach Weite und ursprünglicher Natur.

Blick von den Weissen Steinen

Blick von den Weissen Steinen

An den Felsfeldern der Weißen Steine entdecke ich achtförmigen Flechtenbewuchs, und noch einige Zeit bleibt mir der oben beschriebene wundervolle Blick erhalten, dann erreiche ich den Ferdinandsstein. Hier soll einst der letzte wildlebende Harzwolf am 23. März 1798 von Graf Ferdinand zu Stolberg-Wernigerode erlegt worden sein. (2) Auf faszinierende Weise scheint hinter einer schmalen Fichtenreihe die Sonne auf eine mit Felsbrocken durchsetzte Ödfläche, bringt ihren Blütenbewuchs, vor allem Fuchssches Greiskraut, zu einem goldenen Glanz. Wie schön ist es hier oben! Nur schwer reiße ich mich von diesem Anblick los, steige über den Schindelstieg bis zur nächstgrößeren Forststraße hinunter und folge der Forststraße nun wieder bergan, bis ich die Wegspinne des Molkenhaussterns erreiche.
Am Ferdinandsstein

Am Ferdinandsstein

Durch sonnenbeschienen Waldweg, mit Fichtennadeln bedeckt, gelange ich von hier aus zu den Granitblöcken zunächst der Unteren, dann der Oberen Zeterklippen. Rötlich gefärbtes Heidelbeerkraut bedeckt die niedrigeren Felsblöcke, an den Zweigen leuchten die reifen blauen Beeren. Imposant erheben sich insbesondere die Oberen Zeterklippen wie kleine Felstürme in der kargen Landschaft. Man ist hier dem Brocken ganz nah, hat einen vollen Blick auf seine Erhebung, und vielleicht ist es kein Zufall, daß gerade hier dunkle Regenwolken aufziehen, als hätte sie der Brocken selbst herbeigerufen. Wettergebeugte Fichten halten sich wacker zwischen den Felsen; am Brocken selbst zeigen sich große Felder abgestorbener Bäume.

An den Oberen Zeterklippen

An den Oberen Zeterklippen

Schon bald nachdem ich die Zeterklippen verlassen habe und zum Gelben Brink hinuntersteige, zeigt sich die Sonne wieder, die Wolken sind verflogen. Wirklich ein Brockenphänomen? Mittlerweile ist es schon Nachmittag, und vom Bahnhof Steinerne Renne bin ich weit entfernt, die Landschaft hatte mich durch einen wunderbaren Ausblick, eine faszinierende Felsformation nach der nächsten immer weiter und eigentlich schon jetzt viel zu weit fortgelockt. Eigentlich hatte ich von hier aus ein kurzes Stück auf dem Glashüttenweg wandern und bald nach rechts über den Höllenstieg zur Molkenhausstraße und zum Gasthaus Steinerne Renne abbiegen wollen, das wäre ohnehin noch ein gutes Stück zu gehen gewesen. Doch nun mache ich einen entscheidenden Fehler: ich halte den mit einer dicken dunkelroten Linie in die Karte eingezeichneten Glashüttenweg für die Asphaltstraße, die von dieser Weggabel aus wegführt. Jedoch sollte die dicke Markierung nur darauf hinweisen, daß es sich hierbei um einen Hauptwanderweg handelt, besagt jedoch nichts über die Qualität des Weges. Man sollte rechtzeitig die Legende einer Karte lesen…

Ahrensklint

Ahrensklint

So nehme ich also guten Glaubens die Asphaltstraße (ich habe keinen Kompaß dabei) und wundere mich allenfalls, daß der Abzweig nicht kommt, den ich so gerne Richtung Steinerne Renne hatte nehmen wollen. Vielleicht später… auf einmal taucht ein Schild auf, Bahnhof Schierke, 2 km. Moment! Schierke! Das konnte nicht stimmen, jetzt mußte es selbst mir auffallen, daß ich falsch gegangen war. Ich gehe noch eine Kurve weiter, dann stehe ich vor den Gleisen der Brockenbahn. Na fein! Jetzt war der Weg zurück erst richtig weit geworden. Aber was hilfts, nun muß ich da eben durch. Ich studiere wieder meine Karte, diesmal intensiver, und nehme den Weg parallel zu den Gleisen nach Südosten, bis der Pfaffenstieg zu den Felsen des Ahrensklint ansteigt. Eine Hinweistafel erklärt: „Der Ahrensklint war unter der Bezeichnung „Arneklint“ (Adlerfels) die älteste Bezeichnung eines Forstortes im Schierker Gebiet. Vor 1411 gehörte er der Wernigeröder Bürgergemeinde. Am 28.1.1411 tauschte der Graf zu Stolberg Wernigerode den Forstort aus, um sein Wald- und Jagdgebiet abzurunden. Von da an zählte der Ahrensklint zum gräflichen Forst und wurde Schauplatz repräsentativer Gesellschaftsjagden der feudalen Harzgrafen. Heute ist der Ahrensklint ein beliebter Aussichtspunkt, der von zahlreichen Gästen besucht und bestiegen wird. Betreten auf eigene Gefahr!“ (Wer hätte letzteres gedacht…)

Noch ein Stück geht es bergan, dann habe ich den Glashüttenweg – diesmal den richtigen! – erreicht. Als idyllisch schmaler Pfad führt er mich nach Osten bis zur Spinne. Was soll’s, denke ich mir, jetzt wird es sowieso spät werden – und nehme noch den Abstecher zu den Leistenklippen mit. Stellenweise ist der Pfad zu einem Bohlenweg ausgebaut, und herrlich ist der Blick aus der Höhe in der Abendsonne. An den Hohneklippen vorbei steige ich wieder hinunter zum Glashüttenweg und stehe direkt vor dem Trudenstein. Auch dieser Granitblock ist begehbar, und erneut erklimme ich einen Aussichtspunkt über die nunmehr schon abendliche Harzlandschaft.

Blick auf den Hohnekamm

Blick auf den Hohnekamm

Wenig später zweigt ein Waldweg in nördliche Richtung ab, ihm folge ich bis zur Eschwegestraße. Auf breitem Schotterweg, der tagsüber auch hin und wieder von Bussen befahren wird, wandere ich durch den Abend immer geradeaus. Einen Abzweig zu den Ottofelsen, meinem ursprünglichen Ziel, beachte ich nicht, es ist schon viel zu spät geworden, es dämmert schon, und ich muß zurück – ich habe nichts dabei, was für ein Übernachten draußen geeignet wäre, keinen Schlafsack, keine Decke, nicht einmal einen Pullover oder eine lange Hose. Vorbei an einem Forsthaus erreiche ich gegen 21 Uhr das Gasthaus Steinerne Renne. Die Dämmerung wird durch die Nacht abgelöst, Dunkelheit bricht herein. Im letzten Licht werfe ich noch einen Blick auf die Karte, präge mir den Weg ein, dann ist sie nicht mehr lesbar, und ich habe auch weder Taschenlampe noch Streichhölzer bei mir, genausowenig ein Feuerzeug. Ein etwas schmalerer, nicht befahrbarer Weg führt am Gasthaus vorbei in den Wald hinein, und ich hoffe, daß ich den richtigen Weg gewählt habe. Bald trifft er auf eine befahrbare Schotterstraße, der ich bergab folge. Nach rechts zweigt ein schmaler Pfad ab, aber die Wegtafel ist in der Dunkelheit nicht zu lesen, ich bleibe also auf der Straße. Wenigstens ist der Straßenschotter ein wenig heller, sticht aus der dunklen Umgebung hervor. Eigentlich ist es schön, in dieser lauen Sommernacht hier zu gehen, wenn nicht irgendwo die Angst versteckt wäre, schon die nächste Biegung könnte einen Wendepunkt in die falsche Richtung darstellen. Solange ich die Lichter von Wenigerode hin und wieder durch die Bäume schimmern sehe, ist alles gut. Und ich habe Glück: ich bin auf der Bielsteinchaussee gelandet, die mich mit leichtem Gefälle sanft den Berg hinunterleitet bis zum Parkplatz am Bahnhof Steinerne Renne. Ein wenig erleichtert bin ich schon, als ich glücklich nach 12 ½ Stunden Wanderzeit um 22:30 Uhr unten angelangt bin. Nach Magdeburg, wie ursprünglich geplant, fahre ich an diesem Abend nicht mehr, sondern übernachte in Bad Harzburg – ich hatte mir eine halbe Woche Urlaub genommen. Was für ein Tag, aber trotz aller Mühe doch voller herrlichster Naturbilder! An sich wäre die zurückgelegte Wegstrecke allerdings eher als Wochenendfahrt denn als Tageswanderung zu empfehlen.

Blick vom Trudenstein

Blick vom Trudenstein


(1) http://alpharanma.beepworld.de/wolfsklippen.htm, abgerufen am 21.03.2012
(2) vgl. http://www.harzer-wandernadel.de/home/stempelstellen_details.php?id=16, abgerufen am 21.03.2012 und http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinandsstein, abgerufen am 21.03.2012

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